Kinderspiele und Dämonen
Dorothea Zwirner, Text für den Katalog "10 Jahre Falkenberg"
Es scheinen die alten Weiden so grau, die den fluchtpunktartig in die Tiefe führenden Weg säumen. In den Ästen der ersten beiden Bäume hängen kopfüber zwei Mädchen an den roten Riemen ihrer Sandalen aufgeknüpft. Wie Erlkönigs Töchter könnten sie einer Fieberfantasie entsprungen, Opfer eines Gewaltverbrechens oder auch nur übermütige Kunstturnerinnen sein. Einem dritten Mädchen mit durchsichtigem Oberkörper, das ganz unbeteiligt im Bildvordergrund auf einem Spielbrett steht, könnte dasselbe Schicksal bevorstehen. Auch sie trägt rote Sandalen und eine dritte Weide steht am Ende der Allee bereit. Mit narrativen und abstrakten Versatzstücken in kargen Landschaften erzeugt Kerstin Grimm die märchenhafte und zugleich unheimliche Stimmung ihrer Zeichnungscollagen. Kinderspiele lautet der Sammeltitel dieser traumartigen Szenen von atmosphärischer Dichte, wie sie sich in den Tiefenschichten unseres Unterbewusstseins oder unserer Träume abspielen.
Die Welt der Kinderspiele beschäftigt Kerstin Grimm seit bald zehn Jahren. Außer den großformatigen Zeichnungscollagen Kinderspiele (2004-2011) gehört auch die jüngere der beiden kleinplastischen Bronzegruppen Stunde der Dämonen (2002-2009) in diesen Themenkreis. Nachtgesicht, Rattenritt, Bluthund, Scheinengel oder Namenlos heißen die grotesken Mischwesen und Traumgespenster auf rohen Eisenstelen, die aus Jorge Luis Borges Enzyklopädie der imaginären Wesen stammen könnten. Ein kopfloser Rumpf hockt rittlings auf einem Vierbeiner mit spitzem Vogelschnabel und langem Rattenschwanz, der seinen Reiter abzuschütteln versucht. Welcher Teufel reitet die bucklige Kreatur? Wer vollführt diesen grausamen Rattenritt? Auf seine langen Hinterläufe hat sich der mit einem Kürbis gepanzerte Vierfüßler erhoben, um zwischen den kurzen Vorderläufen sein aufgerichtetes Geschlecht zu präsentieren. Namenlos ist dieses Wesen im Schutzpanzer seines Imponiergehabes, aber ganz unbekannt ist es nicht. Auf spindeldünnen Beinen mit Vogelkrallen mutiert eine exotische Fruchtform zum Kopffüßler mit Bürstenschnitt, der seine markanten Fühler wie gebogene Greifarme ausstreckt. Seltsame Geschöpfe wie dieses Nachtgesicht sind Ausgeburten unserer Träume, Ängste und Fantasien. Ihre plastische Gestaltung verdanken sie demselben Collageprinzip, das Kerstin Grimm aus der Zeichnung in die Plastik überträgt, indem sie gesammelte Fundstücke und Naturalien wie Frucht-, Tier- und Pflanzenformen in ihre aus Wachs modellierten Skulpturen integriert, um sie anschließend in Bronze zu gießen. Dabei ist die Verbindung modellierter und vorgefundener Formen so raffiniert, dass sie kaum wahrnehmbar den Fantasiereichtum der imaginären Wesen beflügelt.
Das Bestiarium der Dämonen hat seine Vorläufer in dem älteren Ensemble Die große Flussfahrt (1991-2001), mit dem sich Kerstin Grimm 1991 nach ihrem Germanistikstudium an der Humboldtuniversität und ihrem Abendstudium an der Kunsthochschule in Berlin gleich nach der Wende auf die Reise zu den unbekannten Ufern der bildenden Kunst begeben hat. In den plastischen Fantasiegebilden liegt der eigentliche Ausgangspunkt für die märchenhafte Bildsprache, mit der die in Oranienburg geborene Künstlerin die ländliche Abgeschiedenheit ihrer ostdeutschen Herkunft sublimiert hat, um ihren Traum vom Fliegen – so der Titel einer Zeichnungsserie von 1995 – zu verwirklichen.
Die große Flussfahrt zählt über 30 Einzelwerke, die auf schmalen Sockelplatten wie auf Barken daherkommen. An Bord der stromlinienförmigen „Boote“ finden alle Arten von Tieren, Menschen oder Fabelwesen Platz, allein, paarweise oder in Kleingruppen, stehend, sitzend oder in Bewegung, mit oder ohne Gerätschaften im Gepäck. Der schlanken Sockelform folgend sind Blick und Körperhaltung der „Reisenden“ immer in Fahrtrichtung gerichtet, so dass sie sich uns am besten wie Schattenspiele in Seitenansicht präsentieren. In ihrem filigranen Körperbau tragen sie nicht nur dem labilen Gleichgewicht einer Flussfahrt Rechnung, sondern folgen auch einer bestimmten kunsthistorischen Tradition, die in ihrer feingliedrigen Struktur und schrundigen Oberfläche die Verletzlichkeit der Kreatur zum Thema gemacht hat. Ob Alberto Giacomettis Hund, Louise Bourgeois Spinne, Barry Flanagans Hase oder Germain Richiers Gottesanbeterin und Heuschreckenfrau, sie alle gehören demselben Kosmos an, der sich mit Kerstin Grimm auf die große Flussfahrt begeben hat. Allein das Jüngste Gericht fällt aus dieser Ahnenreihe schon wegen seiner Größe, Komplexität und Thematik heraus und greift mit seinem berühmten Vorbild vom Tympanon der Kathedrale Saint-Lazare in Autun auf die burgundische Romanik zurück. Sowohl die Flächigkeit des Giebelreliefs, als auch die Ausdruckskraft und Imagination des Meister Gislebertus hat Kerstin Grimm in ihre fragilen Kleinplastiken übertragen. In dem christlichen Motiv der Seelenwaage zwischen Gut und Böse greift die Künstlerin den Urstoff aller Mythen und Märchen auf, den sie in ihren Zeichnungscollagen und Kleinplastiken immer aufs Neue variiert.