Von Macht und Ohnmacht

Erika Költzsch im Katalog "Lost and found", Galerie Haas Zürich 2016

Jeder Erwachsene kennt aus eigener Kindheit schöne und beängstigende Begebenheiten,
hatte Träume und Albträume. Und jeder von uns wird gelegentlich an diese
Gefühle von Macht und Ohnmacht erinnert, sei es durch reale Situationen – oder durch
die Kunst. Wie jene von Kerstin Grimm.
Die Künstlerin Kerstin Grimm zeigt in ihren Collagen Kinder, Tiere, Gegenstände und
Landschaften. Zunächst glauben wir, darin Vertrautes (Schönes und Beängstigendes)
erkennen zu können. Wir nehmen die Kinder gleichsam als unsere Stellvertreter wahr.
Doch so einfach kann man Grimms Bilder nicht entschlüsseln. In ihnen verhalten
sich Kinder, Dinge und Räume eigenartig fern, manchmal geradezu unnahbar zueinander
und vor allem uns gegenüber. So war unsere Kindheit doch nicht, oder?! Die Bilderszenen
erscheinen außerhalb der menschlichen Dimension und Nähe, wie umgekehrt
durch ein Fernglas gesehen. Sie ziehen unsere Erinnerungen an und stoßen sie gleichsam
ab. Sie irritieren. Und bleiben rätselhaft. Mysteriös.
Es sind sicherlich keine Heile-Welt -Bilder, die Kerstin Grimm hier entwirft. Es sind Bilder
von labilen Innen- und Außenwelten, die auf eine magische Art in Balance gehalten
werden. Wie die Welten von „Alice im Wunderland“ oder „Alice hinter den Spiegeln“,
die Kerstin Grimm als Kind beängstigend und verwirrend fand. Erst als Erwachsene entdeckte
Grimm für sich Lewis Carroll, den Autor der beiden „Alice“ Geschichten, den fantastischen
Erzähler und Freund des Paradoxen. Heute findet die Künstlerin seine Literatur
inspirierend, aber mindestens ebenso seine und seiner Zeitgenossen Kinderfotografien.
Womit wir bei der Frage sind, was und wer inspiriert Kerstin Grimm zu ihren Werken?
Sind die dargestellten Motive Erinnerungs- oder Versatzstücke aus ihrer Kindheit und
Jugend, die zu positiven Protagonisten oder eben zu Kritikern geworden sind? Kennen
wir solche oder ähnliche Szenen aus unserer Kindheit, aus der Realität, aus Träumen
oder Albträumen? Erinnern wir uns an sie aus eigener Anschauung oder aus Erzählungen,
aus Märchen und Mythen, aus der Kinder- und Jugendliteratur?
Das zierliche Mädchen mit den langen, dunklen oder blonden Locken und dem
selbstbewussten, bisweilen kritischen, manchmal zornigen, nachdenklichen oder wissenden
Blick, das fester Bestandteil von Grimms Bildrepertoire ist, kommt uns bekannt
vor. Und auch die Kleinkinder, die selbstsicher am Bildgeschehen teilnehmen oder es
bestimmen, erinnern an Gesehenes, Geahntes und Unbewusstes. Grimms Motivschatz
von Katzen, Hunden, Waschbären, Hasen, Mischwesen, Schachspielen, Fluggeräten,
allerlei technischem Gerät und eigenartigen Landschaften, lassen uns wissen, dass es
so ist: All dies sind Versatzstücke, die zu positiven Protagonisten oder auch zu Kritikern
werden können. Denn allein sonnige „Kinderspiele“ sind das keine. Grimms Bilder, darunter
auch die „Kinderspiele“ sind immer mehrdeutig.
Das Rätselraten um ihre Ausgangsmotive führt einerseits bis in die Renaissance zurück,
zu berühmten Kinderdarstellungen innerhalb der Marien-, Christus- und Johannesdarstellungen.
So hat Grimm beispielsweise – und das lange, bevor das Bild ins Zentrum
des Presseinteresses kam – die Darmstädter Madonna (auch Madonna des
Bürgermeisters
Meyer) von Hans Holbein dem Jüngeren, entstanden 1526 in Basel,
als Anregung verstanden.1 Sowohl die Figur des nackten Knaben im Vordergrund des2 3
Bildes als auch jene des Christuskindes selbst hat sie in Darstellungen motivisch eingebunden.
Grimm ist fasziniert von Holbeins Kunstfertigkeit der Kinderdarstellung.2
Seine beiden Figuren sind anatomisch und psychologisch meisterhaft ins Bild gesetzt.
Sie agieren und wirken selbstbewusst, und, trotz ihres eigeschränkten Aktionsradius,
selbstbestimmt und wissend. Das sind keine naiven Kinder, sondern Persönlichkeiten mit
einem ausgeprägten Selbstverständnis, einer Aufgabe und einem Schicksal. Viel mehr
als in den erwachsenen oder halberwachsenen Stifterfiguren, konnte Hans Holbein d. J.
hier in diesen beiden Kindern die Komplexität lebendiger Wesen – als Träger von
aktivem Wissen und Macht und zugleich passivem Erdulden und Ohnmacht – verkörpern.
Ihre Lebensgeschichte ist ihnen bereits im Kleinkindalter eingeschrieben und
vorbestimmt. Genau das ist es, was Grimm darin suchte und fand.
Die Renaissance ist es auch, die Grimm Anregungen für viele ihrer Landschaften
und technischen Geräte, Konstruktionen oder Maschinen gibt. Die Künstlerin kennt
sich aus in Piero della Francescas Perspektiven und Leonardo da Vincis Plänen und
Erfindungen. Auch erinnern manche Elemente ihrer Bilder an Phänomene der Camera
Obscura.
Nicht zuletzt zeigt Grimms Farbigkeit mit Rot, Grün, Anthrazit, Schwarz und
vielen Beige-, Weiss-, Grau- und Erdtönen Parallelen zu der kreidigen Schönheit mancher
Frührenaissance Bilder, freilich in ganz anderer Umsetzung.
Grimm arbeitet mit Transparentpapier und Karton und bezieht deren Materialität
in die Wirkung der Werke mit ein.
Andererseits speist sich der Bilderschatz der Künstlerin aus Kinderfotografien des 19.
und frühen 20. Jahrhunderts. Nach Grimms Meinung wird gerade bei den Kinderaufnahmen
der repräsentative Charakter der frühen Porträtfotografie konterkariert,
spiegelt sich doch mittels Gesichts- und Körperausdruck der „Kleinen“ das Unbehagen,
der Zorn, die Langeweile, die Absurdität oder Komik ihrer Situation am deutlichsten
wider. Kinder unterwandern auf natürlich Weise, sozusagen spielend, die ästhetischen
und gesellschaftlichen Normen der Zeit.
Offen und interessiert ist die Künstlerin auch gegenüber modernen technischen Objekten,
seien es Kampfhubschrauber oder beispielsweise die Abhöranlage „Field Station“
auf dem Teufelsberg bei Berlin. Hierbei sind es nicht nur die geometrischen und räumlichen
Formen, die Grimm faszinieren, sondern auch die inhaltlichen -politischen und
ideologischen – Bezüge dieser Elemente, die wiederum bestimmte Gefühle auslösen.
Und gleiches gilt für die Kinder.
Grimms Bilderkinder sind nicht nur souverän und selbstbewusst, sie können auch
böse und garstig wirken oder gebunden, hilflos und ohnmächtig. Sie sind Kreaturen
einer Welt, die schmerzen kann.
Was wiederum andere Fragen aufwirft: Sind denn die Bewohner von Grimms Bilderwelten
eher somnambule Gestalten, die in einer künstlichen Zwischenwelt zum Leben erweckt wurden?
Die gestalterische Transparenz vieler Grimm’scher Wesen könnte darauf hinweisen.
Oder, sind es „weniger gute“, gar „böse“ Kinder, die etwas im Schilde führen? Mancher Gesichtsausdruck
könnte dafür sprechen. Oder, sind es Traumwesen eines gefährdeten Seins?
Bin … „ich nur ein Wesen in einem Traum und … würde ich verschwinden, wenn er
aufwacht?“, lässt Lewis Caroll Alice fragen.3 Und Alice fragt sinngemäß weiter. In welche
Richtung leben wir? Vorwärts oder rückwärts? Und wohin führt das? „Rückwärts leben,
das … hat einen großen Vorteil, das Gedächtnis arbeitet in beide Richtungen“, sagt die
weiße Königin zu Alice.4Die Fragen, die Lewis Carroll „Alice“ stellen lässt, sind nicht nur neugierig und unkonventionell,
wie die eines Kindes, sie sind auch hintergründig, ja philosophisch. Sie stellen
die Idee eines zeitlich linearen Daseins und unserer zielorientierten realen Erwachsenenwelt
in Frage.
Ähnliches macht Kerstin Grimm mit ihren Bildern. Sie verkehrt Dinge und Situationen,
sie verlässt den gesicherten Standpunkt und oft genug den festen Boden. Sie behauptet
fast trotzig, wo nichts klar ist und hinterfragt bang, wo alles eindeutig sein sollte. Und es
gibt schlichtweg keine Erwachsenen in Grimms Erzählungen.
Unser aller Kindheit ist voller Geheimnisse und, wenn wir erwachsen sind, ist vieles, was
unser Leben damals begleitete und ausmachte, verschwunden, verschüttet, ins Unterbewusstsein
gerutscht. Aber ist es wirklich verschwunden? Was bleibt aus diesen verschiedenen
Welten der Kindheit erhalten, wenn wir sie verlassen haben?
Sind Grimms Bilder Sehnsuchtswelten, in die die Künstlerin Kinder, Tiere und Gegenstände
stellt? Oder ist dies die kritische Auseinandersetzung mit Teilen eines vielleicht angsterfüllten
frühen Lebens, unseres Unterbewusstseins, die Grimm hier anstrebt? Ist es die
Suche, nach dem, was verloren geglaubt oder was verdrängt ist?
Als Kind hofft man, dass man als Erwachsener alles weiß, alles kann, keine Angst haben
muss und in keiner Abhängigkeit ist. Als Erwachsener weiß man, dass dem nicht so ist.
Der Kosmos unserer Kindheit ist immer noch ein Mysterium, der all dies beinhaltet.
„In der Antike gebrauchte man das Wort Mysterium in einem Sinn, der uns heute
nicht mehr geläufig ist. Es bedeutete ursprünglich … ein Schließen des Mundes oder der
Augen. Es bedeutet, man war sich einig oder verbredete, etwas in sich zu verschließen.
Dass manches von Natur aus ein Mysterium war, wurde damals hingenommen und häufig
für selbstverständlich gehalten.“ 5
Genau das zeichnet uns Kerstin Grimm mit jedem ihrer Bilder. Wie eine Seherin, bindet
sie Gegenwart an Distanz und Vergangenheit an Nähe, ebenso sehr, wie sie Macht
mit Kindheit und Ohnmacht mit Leben zusammenbringt. Das Mysterium ist der Künstlerin
Gewissheit.


1 Für die Kunstgeschichte ist es nicht nur als bedeutendes Gemälde des 16. Jahrhunderts, sondern auch als Gegenstand einer
kunsthistorischen Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert relevant, in der mit wissenschaftlich-objektivierbaren Argumenten die
Echtheit des Gemäldes diskutiert und belegt wurde. Von 1852 bis 2003 im Residenzschloss Darmstadt aufbewahrt, wovon sich
seine populäre Benennung ableitet, befand sich das Bild seit 2004 als befristete Leihgabe im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt
am Main. Seit Januar 2012 hängt das Gemälde in der ständigen Ausstellung Alter Meister der Sammlung Würth in der
Johanniterhalle in Schwäbisch Hall. Das Gemälde ist als Kulturgut im baden-württembergischen Verzeichnis national wertvoller
Kulturgüter registriert und darf daher nicht aus Deutschland ausgeführt werden.
2 Das Foto entstand beim Besuch der Ausstellung Holbein in Berlin. Die Madonna der Sammlung Würth mit Meisterwerken der Staatlichen
Museen. Bodemuseum, Berlin am 1. April 2016 und zeigt die Künstlerin vor der Darmstädter Madonna.
3 Lewis Carroll, Durch den Spiegel und was Alice dort fand, deutsche Ausgabe, Stuttgart 2002/2010, S. 215.
4 Ders., a.a.O., S. 223–224
5 Ali Smith, Beides sein, London 2014, deutsche Ausgabe, München 2016, S.227

Dr. Erika Költzsch
2016