Berlin am Meer
Rede von Kathrin Arrieta zur Ausstellungseröffnung in der Galerie Peters-Barenbrock in Ahrenshoop 2008
Wir haben es in den Arbeiten von Kerstin Grimm wiederholt mit Hasen zu tun – nicht vordergründig in Verbindung mit Ostern, aber in einem weitläufigeren Sinne schon. Denn Tiere sind in ihren Zeichnungen und plastischen Kabinettstücken keine natürlichen Studienobjekte, sondern Teil metaphorischer Gebilde, die überaus komplex daherkommen, in der Technik der Bildfindung wohl surrealistisch anmutend, aber inhaltlich doch sehr weit vom klassischen Surrealismus entfernt. Kerstin Grimms Arbeiten stecken voller historischer und mythologischer Zitate, die sehr überlegt eingesetzt sind bis hin zur der äußerst subtilen Kombination von Techniken des Zeichnens und Collagierens in ihren großformatigen Papierarbeiten: Diese erwecken den Eindruck historisch alter Blätter, in denen mehrere Schauplätze und Geschichtsebenen gleichzeitig sichtbar werden. Fast erschrickt man vor der Glaubwürdigkeit dieser Begegnung, vor der Intimität des Raumes, den sie eröffnet, zusammen mit der deutlichen Empfindung, dieses Historische müsse auch Teil eines persönlichen Lebenspanoramas sein - es geht also um das Sichten lebendig gebliebener Traumata im scheinbar Vergangenen der Geschichte. Ich glaube, dass diese Art Grabungstätigkeit die heutige Kunst wesentlich trägt und ihre neuerliche Politisierung mit angestoßen hat, steht doch die heute so ungeheuer virulente Frage nach dem Wesen kollektiver Verirrungen und ihren Wurzeln im Individuum dabei ganz vorn: Eine Thematik, die eng mit Religiosität verknüpft ist, genauer, mit dem Verhältnis von Religiosität und Mündigkeit. Für mich erwachsen Arbeiten wie die von Kerstin Grimm aus solchen Zusammenhängen, hier liegt für mich die Erklärung für ihr Interesse an der langen Tradition religiöser Kunst auf der einen und dem Image des Kindlichen auf der anderen Seite. Es gibt Plastiken von ihr, die an prähistorische Idole erinnern, andere zitieren Biblisches – der gemeinsame Nenner scheint mir das Verhältnis zum Tier als Indikator innermenschlicher und innerweltlicher Harmonie zu sein. Die „Stunde der Dämonen“ ist die der Spaltung von Mensch und Tier in gegensätzliche Naturen – der eigentliche Sündenfall und bis heute sich reproduzierender Inhalt kindlicher Martyrien.
In der „Großen Flussfahrt“, entstanden von 1991 bis 2007, ist die schicksalhafte Beziehung von Mensch und Tier Thema, gebunden an das Motiv der Lebensreise und bezogen auf den Arche-Mythos des Alten Testaments. Anstelle der Gemeinschaft vieler im großen Haus stehen bei Kerstin Grimm einzelne Figuren und Figurengruppen, in Sichtweite voneinander auf dem Weg, jede in ihrer eigenen Arche, als Abfolge vieler ähnlicher Schicksale. Darunter sind Szenen und Akteure ganz unterschiedlicher Herkunft: ein ägyptisches Königspaar ist zu sehen und ein griechischer Pegasus, die alttestamentliche Jakobsleiter, das Jüngste Gericht und die Madonna auf dem Tier: alles Motive der Sinn- oder Gotteserfahrung verschiedener Kulturen. Engel und Drachen ziehen dahin nebst Tieren, die der Physiologus beschreibt, wie Hase und Elefant und der hundegestaltige Enhydris – Tiere mit einer seelischen Bedeutung: So zeigt sich das Tier als sinngebender Teil und Leitmotiv der Lebensfahrt.
Bildhauerisch löst Kerstin Grimm das Problem der Bewegung durch die offene Form und instabile Aufsockelung ihrer Plastiken: Man muss unmittelbar davor stehen, um sie sprichwörtlich „vor Augen“ zu haben. Die dünnen Sockel nehmen Schwingungen des Raumes auf und speisen sie dem Bewegungsfluss der Gruppe ein – wir alle nehmen also daran teil. Die plastische Form ist für Kerstin Grimm nichts Statisches: Sie orientiert sich an Künstlern wie Honoré Daumier oder Giacometti, die den Körper als kubisch unklares, vibrierendes, im Grunde malerisches Gebilde sahen. Wie bei Daumier wirkt die Gebärde ihrer Figuren manchmal grotesk. Wichtig ist die ausdrücklich anti-monumentale Auffassung: die betonte Kleinheit und zeilenförmige Ordnung der Gruppen: Letztere weist auch auf die "Afrikanischen Reisen" und Bootsfiguren Jo Jastrams.
(Auszug)