Kinderspiele
Rede von Susanne Greinke zur Ausstellungseröffnung in der Galerie Pankow 2010
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kerstin Grimm,
um mich den Arbeiten der Berliner Künstlerin Kerstin Grimm sprachlich anzunähern, lassen Sie mich zunächst mit einem Aspekt beginnen, der sich auf die Sprache bezieht.
Kinderspiele, so ist die Ausstellung Kerstin Grimms überschrieben und so lautet auch der Titel einer größeren Werkgruppe, die hier zu sehen ist. Mit diesem Begriff wird ein Areal der menschlichen Existenz berührt, zu dem wir alle einen persönlichen Zugang besitzen. Jeder von uns war irgendwann ein spielendes Kind und sogar im Erwachsenenalter wird mancher von Zeit zu Zeit zum Homo Ludens, dem spielenden Menschen.
Was ist das Spielen eigentlich?
Man könnte es als freies, kreatives Handeln in einem zeitlich und örtlich begrenzten Rahmen definieren. Spielen ist kulturstiftend und trägt zur Reproduktion der jeweiligen Kultur bei. Es ist dem Kunstmachen verwandt.
Das Spielen - und dabei denke ich auch an die unzähligen Computerspiele die für manchen, nicht nur für Kinder, zu einer Art Ersatzwelt werden können - gehört zu jenen Kulturtechniken, deren Bedeutung sich in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert hat.
Im Spiel spiegelt sich die real erscheinende Welt, gleichzeitig bietet es die Möglichkeit eines Ausstiegs aus dem Hier und Jetzt. Das Bedürfnis eines solchen Aussteigens, und sei es nur für einen kurzen Moment, scheint in der heutigen Zeit besonders groß zu sein.
Auf den ersten Blick könnte man die Arbeiten Kerstin Grimms auf ähnliche Weise lesen, tauchen wir doch beim Betrachten ihrer Bilder und Skulpturen in Sphären weit ab vom Alltäglichen, vom vermeintlich Realen ein. Ihre Bilder scheinen Träumen oder Erinnerungsfetzen früherer Kindheiten entlehnt. Bei genauerer Betrachtung bleiben ihre Werke jedoch nicht auf die bloße Wiedergabe von individuellen Kopfwelten beschränkt. Die Künstlerin fischt in überindividuellen Gewässern.
Indem sie religiöse, mythologische und historischen Themenfelder bearbeitet und die damit verbundenen Bildwelten aufruft, können ihre Werke in einen Dialog mit unserem kulturellen Bildgedächtnis treten.
Kerstin Grimm bedient sich dabei der Collage, ein Verfahren, das vor allem in unseren computerdominierten Zeiten kreative Prozesse nachhaltig beeinflusst.
Anders als viele ihrer Künstlerkollegen verwendet sie in ihren Collagen ausschließlich selbst geschaffenes Bildmaterial. Alle Bildelemente vom Muster bis zur zart umrissenen Darstellung eines Kindes sind Zeichnungen aus Tusche, Graphit, Kreide, Kohle oder Acrylfarbe, die über längere Zeiträume entstehen und schließlich zerrissen oder zerschnitten werden, um sie in neue Bildzusammenhänge zu setzen. Während des Zeichnens beschäftigt sich die Künstlerin, wie schon angedeutet, mit dem reichhaltigen Fundus der Kunstgeschichte, mit alten Fotografien, Kupferstichen oder Abbildungen, die sie auf Streifzügen über Flohmärkte sichtet. Gerade das Bearbeiten vergangener Bildwelten verleiht ihren Werken etwas Entrücktes, Überzeitliches
Demnach haben auch die Kinder, welche die Bildwelt Grimms nahezu ausnahmslos bevölkern, wenig mit zeitgenössischen Vorstellungen vom Kindsein zu tun. Weder passen sie in das Schema des niedlichen Kindchens, noch sind sie wild, laut, ausgelassen oder gar hyperaktiv. Sie sind nicht in Horden oder mit Eltern unterwegs, sondern häufig allein. Manchmal sind ihnen Tiere an die Seite gestellt. Diese Kinder erscheinen ernst, nachdenklich, wirken konzentriert und in sich versunken.
In einem Gespräch mit der Künstlerin wies sie darauf hin, dass viele ihrer Darstellungen aus intensiven Studien des Jesusknaben in Werken der Renaissance hervorgegangen sind. Die Vorstellung eines Säuglings oder Kleinkindes als Weltenherrscher faszinieren Kerstin Grimm und so tauchen die kindlichen Monarchen in ihren Bildern wieder auf. Mit diesen Arbeiten nähert sich die Künstlerin historischen Phasen, in denen die Kindheit, wie wir sie kennen, erst noch erfunden werden musste. Dort findet der Homo Ludens keinen Platz.
Stammen die Anregungen für die Werke von Kerstin Grimm auch aus vergangenen Epochen, ihre Bildwelten erscheinen uns eigentümlich vertraut. Das zunächst surreal anmutende Zusammenfügen der einzelnen Elemente lässt ein Bild entstehen, dessen Poesie sich nur im ersten Moment aus der Spannung eigentlich unvereinbarer Dinge speist. Die Kombination von Kindergestalten, Tieren, Flugapparaten oder anderen Versatzstücken vergangener technischer Innovationen wirken auf besondere Weise harmonisch. Die mögliche Gleichzeitigkeit des eigentlich Unvereinbaren, Größenverhältnisse, die sich außerhalb von perspektivischen Vorgaben bewegen oder vermeintliche Durchblicke in tiefere Bildschichten werden zu einem selbstverständlichen Ganzen. Die vielfach geschichtete Bildwelt auf der die einzelnen Fragmente treiben, sind kompositorisch vertäut durch Knitterfalten, schwarze Ellipsen, Kreisformen, lineare Strukturen oder dunkle Bögen.
Tatsächlich entstehen besonders ihre großformatigen Collagen in einem längeren Prozess des Wanderns der Einzelteile über die Bildfläche. Ist eine Position gefunden hält die Künstlerin diese mit kleinen Positionsmarken, einer Kombination aus Zahlen und Buchstaben auf der Bildfläche und dem Bildelement fest, um sie dann an dieser Stelle aufkleben zu können. Diese Markierungen, die nur bei näherer Betrachtung sichtbar werden, könnten zu vielen Interpretationen verleiten und sind doch nur Spuren des künstlerischen Tuns.
Kerstin Grimm setzt ihre Figurationen in Szenarien, die ohne jeden Ortsbezug auskommen. Es sind Landschaftsanmutungen, karge Ebenen, freie Flächen nahezu ohne Pflanzenbewuchs. Raum und Lichtverhältnisse bleiben diffus. Mögliche Erzählungen brechen jäh ab.
Neben den papierenen Collagen entstehen alternierend Skulpturen, die hier ebenfalls gezeigt werden. Sie gehören zwei Werkgruppen an: der „Großen Flussfahrt“ und der „Stunde der Dämonen“. Zunächst fällt das kleine Format der einzelnen Skulpturen auf. Es gleicht dem von Spielzeug.
Während das Bildpersonal auf den Collagen eher isoliert wirkt, sind diese Figuren in direkte Interaktionen verstrickt, die bis zur Verschmelzung der Einzelfiguren zu hybriden Wesen reichen. Das betrifft vor allem Arbeiten, die unter dem Titel „Stunde der Dämonen“ vereint sind. Während die fragilen Figurationen in der „Großen Flussfahrt“ mit ihren schrundigen Oberflächen frei geformt wurden, entstanden die kleinen Skulpturen aus dem Zyklus „Stunde der Dämonen“ aus Fundstücken die Kerstin Grimm zu Figuren zusammengesetzt hat. Hier finden sich Puppenfragmente, ein getrockneter Frosch, Pflanzenteile. Ihre collagierten „Dämonen“ sind statischer, was in der Wahl der stabileren Aufsockelungen noch verstärkt wird.
„Die große Flussfahrt“ hingegen beschreibt mit ihren Paarungen von Tieren und Menschen eine Art mythischer Überfahrt. Dieses Motiv der Bewegung trägt sich bis in die bewegte Oberfläche der Skulpturen. Im Gegensatz zu den relativ klar umrissenen Zeichnungen, scheinen die Formen in diesen Arbeiten zu vibrieren, zudem schwanken die dünnen Stangen, auf denen die Boote mit den Figuren befestigt sind, bei jeder Bewegung hin und her. So wird der herannahende Betrachter, der die Bewegungen auslöst, Teil der Installation.
Kerstin Grimm hat damit den Bildraum in den Ausstellungsraum erweitert und wir, die Betrachter, werden selbst zum Bildpersonal, zu Spielenden … vielleicht.