Die düsterschöne Zwischenwelt von Kerstin Grimm

Künstlerporträt in "Kunst und Material" Nov./Dez. 2017 von Matthias Reichelt

Ein türkises Eisentor mit Drahtglasscheiben ist der Eingang zum Atelier von Kerstin Grimm auf dem ehemaligen Gelände einer Autowerkstatt in Weißensee. Etwa in Hüfthöhe steht in versalen Buchstaben schlicht und ergreifend: GRIMM. Die Namensgleichheit mit den berühmten Brüdern und Sammlern von Volksmärchen stört die Künstlerin gar nicht, im Gegenteil. Kerstin Grimm findet Gefallen daran, denn sie hat ein Faible für deren Märchen. Und tatsächlich ließen sich aus dem bildnerischen Universum von Kerstin Grimm Verbindungslinien ziehen zu dem Grimm’schen Märchenschatz. Nicht, dass sie Geschichten aus dem Archiv der Brüder direkt aufgriffe und in Bilder umsetzen würde. Nein, das gewiss nicht. Kerstin Grimm schafft ihre eigenen mystischen Welten in Gestalt von großen, in braunen, schwarzen und beigen Farbtönen gehaltenen Landschaften, bewohnt von Kindern, jungen Mädchen, Tieren und Fabelwesen. Den Bildern haftet eine geheimnisvolle Stimmung an, die auch an Lewis Carrolls Alice im Wunderland denken lassen, dem Grimm mit einem Bild mal eine Referenz erwiesen hat. In den großen Collagen und Zeichnungen sind häufig bedächtig schauende Kindergesichter zu sehen. Sie wirken so nachdenklich und erwachsen ernst, zeigen kein Lachen oder nur äußerst selten einen Anflug von Lächeln, dass der Titel der großen Werkserie „Kinderspiele“ eher kontrapunktisch und irritierend wirkt. Die Vorstellung von spielenden Kindern birgt Ausgelassenheit, Lachen, Bewegung und eine entsprechenden Lautstärke, letztere freilich kann zwar durch Bilder nicht transportiert aber durch sie evoziert und imaginiert werden. Doch all dies vermitteln die Bildwelten von Kerstin Grimm nicht. Die Kinder schreiten bedächtig, liegen räsonierend, sitzen, ruhen in sich selbst mit verhaltener Kraft und Würde. Als ob sie um die Geheimnisse ihrer Existenz wüssten, harren sie der Dinge, die da kommen.

Grimm verwebt in ihren Tableaus Versatzstücke der Gegenwart mit fast altertümlich anmutender Klarheit der Figuren, die manchmal renaissancegeprägten Madonnenbildern entsprungen sein könnten.

Gerne zeichnet Grimm Kinder aus dem engeren Freundeskreis und fand in Luise, die Tochter einer Freundin, ein dankbares Modell. Sie hat Fotos von ihr gemacht und ihr Gesicht bestimmt das Antlitz einiger bereits verwandter sowie auf Halde liegender Figuren.

Die Gelassenheit und die in sich ruhenden elfenhaften Figuren erinnern manchmal an die zarte und auch laszive Anmut der Mädchen in den Gemälden von Balthus, die er in den meisten Fällen nach der ihm Modell sitzenden Anna malte. So zum Beispiel in Grimms „Kinderspiele: Nocturno II“ von 2013 oder „Kinderspiele“ von 2008. In letzterem Bild folgt ein Mädchen sehenden Blicks und verbunden durch ein rotes Band einem anderen Mädchen mit transparentem Tüllrock, dessen Augen wie für ein Spiel geschlossen sind. Im Hintergrund fährt ein Hund auf einem Skateboard und im linken Vordergrund in Affenpose und -körper aber mit Menschenkopf ein geheimnisvolles und schwarz maskiertes Zwitterwesen. Das geraffte Grün am rechten Rand könnte ein Hinweis auf eine Bühne sein. Viele narrative Ansätze, die sich weiterspinnen ließen. Absurdität, Stille, Ernst, Anmut und Geheimnis zugleich.

Auf „Dreh dich um“, dessen Titel unweigerlich an das bekannte Kinderlied denken lässt, und dessen komplette Strophe aus Kindheitstagen heraufbefördert, blicken drei Mädchen aus dem Bild hinaus, geführt von einer nur skizzierten und nebulös bleibenden Figur, während auf der rechten Seite ein unverhältnismäßig großer Hund im Bild schwebt.

„Dreh' dich nicht um, denn der Plumpsack geht um. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel schwarz gemacht.“

Die Aushebelung von Perspektiven, Größenverhältnissen und Schwerkraft sind methodische Elemente, die neben den eigenartigen Landschaftsräumen das Märchenhafte und Geheimnisvolle in Grimms Bildern mit konstituieren.
Der Ernst in den Mädchengesichtern lässt auch an Henry Dargers The Story of the Vivian Girls denken, in dessen Bildkosmos die Kinder als einzige Spezies der Menschheit alle Szenarien durchlaufen und -leiden, inklusive des Horrors von Krieg und Vernichtung.

Doch grausam geht es in den Bildern von Kerstin Grimm gar nicht zu und dennoch evozieren sie einen Hauch von Morbidität, diabolischer Kälte und lassen die Betrachter trotz der so reizvollen aber nicht ungebrochenen Schönheit mit dem Gefühl eines schaurigen Unwohlseins zurück. Kerstin Grimms künstlerisches Universum ist eine Verschränkung von Gegenwart mit einem Reich aus Traum und Vergangenheit zu einer eigentümlichen Zwischenwelt, die einerseits eine Leichtigkeit signalisiert aber auch ein dunkles und apokalyptisches Raunen birgt.

In dem „Paradies-Spiel“ aus dem Jahr 2014 signalisieren die Gesichter der zwei Mädchen keineswegs Glücksgefühle und stehen nicht nur unter Beobachtung eines auf den Hinterbeinen stehenden Erdmännchens im Bildvordergrund, sondern sind wohl auch im Fokus eines Hybrids aus Spinne und Drohne. Dieser Hybrid schwebt am Rand eines runden Planeten (?), der im Inneren eine an Bohrtürme und Abraumgerät erinnernde Architektur offenbart. Der „Bühnenraum“ im Bild birgt vorne einen See, begrenzt von einem schwarzen horizontalen und exakt geraden Rand sowie einen Felsen, über dem der besagte Planet wie eine Blase schwebt und sich zur rechten Seite hin von einer hohen schwarzen Wand absetzt. Grimms Bilder wirken wie theatrale und surreale Räume, in denen neben den Menschen- und Tierfiguren als Repräsentanten einer anderen Epoche auch Doppeldecker und an Satelliten erinnernde Flugobjekte auftauchen können.

Ein Illusionsraum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Szene eines nebulösen Theaterstücks miteinander verschmelzen und auf rätselhafte Art zeitlos wirken.

„Stunde der Dämonen“ (2015) zeigt einen rosa und von grauen Wolken durchzogenen Himmel, an dem Hubschrauber kreisen, während ein kleines Kind versunken mit seinem weißen Jojo spielt und hinter ihm ein großer schwarzer Obelisk mit einem Gerüst plaziert ist. Ganz im Hintergrund vor dem rosafarbenen Horizont lauert eine große Raubkatze, von der das versonnene Kind keinerlei Notiz nimmt. Hier arbeitet Grimm bewusst mit den Größendimensionen. So entsteht eine eigentümliche Spannung zwischen der lauernden Haltung des Tieres und dem deutlich in sich gekehrten Kind, das entweder keinerlei Notiz von dem lauernden Tier nimmt oder es bewusst ignoriert. Oder ist das ein Viel zu Viel an Bilddeutung, wie der im Juli 2001 nur 46-jährig gestorbene Schriftsteller Peter Brasch für Kerstin Grimms Büchlein „Kinderspiele“ so eindrucksvoll schelmisch wie rhetorisch formuliert hatte:

„Vielleicht wieder eine unzulässige Interpretation dieser auf den ersten Blick absichtslos gepaarten Tiere und Landschaftsfragmente. Die Absichtslosigkeit erzeugt die Möglichkeit, die Dinge miteinander sprechen zu lassen, auch wenn sie scheinbar beziehungslos vor sich hin assoziieren. Der wortlose Atem macht diesen Zusammenhang möglich. Fantasmatiere gehen den Bund der Losigkeiten ein, die sie aufs Papier gebannt habe, aber dem sie jederzeit wieder entspringen können.“ 1

Die 1956 in Oranienburg geborene Künstlerin absolvierte zuerst ein Germanistikstudium, bevor sie über ein Abendstudium an der Kunsthochschule Weißensee Anfang der 1980er-Jahre ihren Weg in die Kunst ebnete. Die Frage, ob sie womöglich die Ideen zu ihren Bildgeschichten aus literarischen Vorlagen beziehe, beantwortet Kerstin Grimm mit einem klaren Nein. Die Bildkompositionen entstehen erst allmählich in einem längeren Prozess. Ausgangspunkt ist dabei nie eine Geschichte. Das Bild formt sie peu à peu. Die großen Landschaften malt sie am liebsten im Sommer, wenn die Hitze die Trockenzeit der Farbe entsprechend reduziert. Bei niedrigen Temperaturen benötigt die Farbe bis zu neun Stunden zum Austrocknen und die Fläche steht erst danach zur Weiterverarbeitung bereit. Denn als Trägermaterial nutzt Grimm vorwiegend das besonders von Architekten verwendete und kaum saugfähige Transparentpapier. Darauf „stehen die Farben konturscharf, sind kontrastreich und haben eine hohe Farbbrillanz“, wie die Künstlerin hinzufügt. Viele der bildnerischen Elemente, die Menschenfiguren, Tiere und Apparaturen malt sie und schneidet sie aus, und legt sie regelrecht auf Halde. Aus diesem Fundus kann sie sich immer bedienen und die verschiedenen Elemente in den Landschaftskompositionen ausprobieren, in denen auch schon mal architektonische Räume mit gefliesten Böden integriert sein können.

Im Studio sitzen wir umgeben von vielen Resten an Transparentpapier, manche zu kleinen Stapeln formiert, andere geknüllt und vom Besucher leichtfertig und vorschnell als Abfall gewertet. Falten und Knicke in den Papieren halten die Künstlerin jedoch nicht davon ab, sie dennoch zu verwenden. Die auf den Collagen sichtbaren Strukturen durch Knicke entstehen allerdings erst durch das Verleimen, behaupten sich aber als zusätzliche bildnerische Elemente, die bei genauer Betrachtung sogar der reproduzierten Werke ebenso zu erkennen sind wie die applizierten also collagierten Teile.

Neben einer der noch unfertigen Arbeiten sind an der Seite auf einem Stück Karton Objekte gelistet, die Grimm während des Collagierens in den Sinn geraten und für eine Komplettierung der Arbeit in Frage kommen könnten. In diesem Zusammenhang spricht sie von Balance, der sich die Struktur eines Werkes fügen soll. Auf der Liste fand sich aber auch ein Zitat aus Georg Büchners Leonce und Lena, das kongenial zum Grimm’schen Werk passt:

„Die Erde hat sich ängstlich zusammengeschmiegt wie ein Kind, und über ihre Wiege schreiten die Gespenster. 2

Manchmal, aber eher selten, kann es passieren, dass Grimm angesichts einer bereits gerahmten und an ihre Galerie ausgelieferten Arbeit der Gedanke kommt, hier gerne nochmals Hand anlegen zu wollen, um die Komposition zu verbessern. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass sie die Arbeiten doch zu früh aus dem Studio gegeben hat? In der Regel lässt Kerstin Grimm die Arbeiten deshalb längere Zeit im Studio stehen und auf sich wirken, um zu sehen, ob sie ihrem kritischen Auge auf die Dauer standhalten. So hat sie meistens mehrere Kompositionen in Arbeit, die in den unterschiedlichen Produktionsstadien an den Studiowänden lehnen.

Tiere, oft in bedrohlicher Größe als Pedant zu den Kindern, spielen eine wichtige Rolle in Grimms Oeuvre. „Ich gehe oft in den Tierpark Friedrichsfelde und fotografiere sie. Besonders faszinieren mich Affen, weil sie so unmittelbar auf ihr Gegenüber reagieren und sehr intelligent sind. Ich werte aber auch anderes Material aus. Hyänen finde ich auch sehr interessant.“ Unter den vermeintlichen Abfällen von Karton und Transparentpapieren auf dem Atelierboden lugt das Foto einer Hyäne mit fletschenden Zähnen hervor. Kerstin Grimm kramt den Katalog des südafrikanischen Fotografen Pieter Hugo hervor, dessen große Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg in diesem Jahr zu sehen war. Hugos Fotoserie von Hyänen-Dompteuren in Südafrika haben Grimm in den Bann gezogen und könnten eines Tages bei ihr eine Idee entstehen lassen.

Balancieren die Collagen Grimms auf einem Grad zwischen Faszination, Anziehung und leisem Schauer, so obsiegt in ihren Skulpturen häufig das Dämonische, zu dem der berühmte Titel von Francisco de Goya passt: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

Mit Gips und Wachs formt Grimm ihre Vorlagen; Wesen zwischen Mensch und Tier wie Harpyien und Sphinxe, Ratten in aggressiver Abwehrstellung, einarmige und eigentümlich kindhafte Krieger, Mischwesen aus Spinnen und Käfern mit langen Fühlern. Zwei große Werkgruppen finden sich auf Grimms Website. Zum einen ist das „Die Stunde der Dämonen“ (2007) sowie die zwischen 1991–2007 entstandene Serie „Große Flußfahrt“, über die einst der bereits oben zitierte Peter Brasch so treffend fabulierte:

„Irgendwann war die Arche zerborsten, die Sprachen unkenntlich gemacht, ein Dialektgewirr entstanden und die Leute irrten einsam gemeinsam mit ihren Tieren über die sieben Weltmeere. Gott war auch nicht mehr das, was er mal war, Jesus Christus gammelte inzwischen an seinem Kreuz herum und verkündete das, was sowieso schon jeder wusste: Daß die Welt dreieckig ist, sich um den Mond dreht und die Menschen alle nicht ganz rundlaufen.

Da kam die Urenkelin der Geschwister Grimm, die barmherzige Schwester Kerstin, und baute für alle Tiere, Menschen und sonstige Lebewesen vor allem Mühlräder, neue Archen und Boote, die zwar vereinzelt, aber sehr individuell über die Weltmeere segelten. 3

Eine Figur ragt aus der Werkgruppe „Stunde der Dämonen“ heraus, und sei hier erwähnt, auch wenn ihr die Künstlerin keine prominente Position zuerkennt. Es ist das „Splitterbaby“ von 2007, eine aus Porzellan, Glas und Wachs geschaffene armlose Skulptur mit aufgesetztem Kopf, einem Objet trouvé, und einem fragilen und mit Glasstücken besetzten Körper. Diese helle Skulptur setzt sich kontrastreich von den dämonisch dunklen Gestalten ab und signalisiert durch das Fehlen der Arme und dem Puttengesicht eine hilflose Versehrtheit.

Kerstin Grimms Werk zieht die Betrachter magisch an, denn es ist so entrückt wie plastisch zugleich und entführt uns in eine andere Sphäre, die scheinbar nichts mit unserer lauten, von Hektik, Eventmacherei und Geschwindigkeit bestimmten Welt zu tun hat und uns vielleicht gerade deshalb so eindringlich berührt. Die fremdartigen Räume mit den so isolierten, aber mit großer und innewohnender Kraft präsenten Wesen signalisieren eine Art von Verlorenheit, die durchaus Melancholie und auch wenn nur ganz leicht Ängste hervorrufen. Sie rütteln an Vorstellungen, wecken Gefühle, die irgendwo in den Betrachtern ruhen. Vielleicht lässt sich der Gegenwartsbezug der Grimm’schen Kunst vertrackterweise über die Zukunftserwartungen erklären, was E. M. Cioran in einem kurzen Aperçu zum Ausdruck brachte:

„Grauen ist Zukunftsgedächtnis.“ 4

 

1 Peter Brasch: Frag Ment. [Auszug aus einer Rede zur Vernissage der Ausstellung „Grimms Tierleben“ in Hamburg 2000] In: Kerstin Grimm: Kinderspiele. Berlin: edition timpani 2007, S. 3.

2  Die ganze Passage lautet passenderweise zu Grimms Ouevre: „Sieh, was seltsame Gestalten sich dort jagen, sieh die langen weißen Schatten mit den entsetzlich magern Beinen und Fledermausschwingen und Alles so rasch, so wirr und da unten rührt sich kein Blatt, kein Halm. Die Erde hat sich ängstlich zusammengeschmiegt wie ein Kind, und über ihre Wiege schreiten die Gespenster.“ Georg Büchner: Leonce und Lena - Kapitel 7, 2. Szene. http://gutenberg.spiegel.de/buch/-420/7 [zuletzt aufgerufen am 29.9.2017]

http://www.kerstingrimm.de/de/texte/die-grosse-flussfahrt [zuletzt aufgerufen am 2.10.2017]

4 E. M. Cioran: Gedankendämmerung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 194.

Matthias Reichelt
2017